«Das Risiko einer Strommangellage war schon vor Covid und dem Krieg bekannt»


Vorbereitung. Das ist das Schlüsselwort von Serge Boschung, dem Vorsteher des Amtes für Energie des Kantons Freiburg, wenn er gefragt wird, ob ihn die aktuelle Lage im Spannungsfeld zwischen Strommangel und Strompreiserhöhung beunruhige. Mit fundiertem Fachwissen erklärt er Ursachen und Folgen eines Markts, der sich in einer komplexen Situation befindet.

Wie sieht in diesem Winter die Energiesituation im Kanton Freiburg aus?

Wir leben in aussergewöhnlichen Zeiten. Das Risiko einer Mangellage besteht, und es ist wichtig, Massnahmen zu ergreifen, um Abschaltungen zu verhindern. Der Bund hat verschiedene Phasen definiert: Zuerst wird die Bevölkerung aufgefordert, Strom zu sparen, anschliessend könnten die Bundesbehörden den Unterbruch von nicht notwendigem Stromverbrauch (etwa bei Saunas, Schwimmbädern oder Beleuchtungen) veranlassen. Dann könnten sie eine Kontingentierung für Verbraucherinnen und Verbraucher mit einem Stromkonsum von über 100 Megawattstunden (MWh) vornehmen, die aufgefordert würden, ihren Konsum um einen bestimmten Prozentsatz zu reduzieren. Und schliesslich könnten sie auch eine Abschaltung verfügen, das heisst einen zeitweiligen, alternierenden Stromunterbruch in bestimmten Zonen. Diese letzte Phase hätte massive Auswirkungen auf die Wirtschaft, könnten doch gewisse Betriebe nicht mehr arbeiten.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es schwierig vorauszusagen, welche Phase zur Anwendung kommen wird, denn das hängt von verschiedenen Faktoren ab, etwa von der Verfügbarkeit der Kraftwerke in den Nachbarländern, von den Temperaturen in diesem Winter und von der Situation in der Ukraine. Wir hoffen, dass wir die letzte Phase nicht erreichen werden, aber wir müssen uns darauf vorbereiten, auch wenn das Risiko gering ist.

Sie sagen, das Risiko einer Strommangellage habe schon vor dem heutigen geopolitischen Kontext bestanden …

Das ist so. Die Regulierungsbehörde für den Strommarkt sowie die Wirtschaftliche Landesversorgung (WLV) haben das Risiko einer Strommangellage bereits vor dem Krieg erwähnt. Sie gingen von einer Mangellage ab 2025 bis 2030 aus, aber der Krieg in der Ukraine hat die Entwicklung beschleunigt. Um das klarzustellen: Es war das Hauptrisiko für unser Land vor der Covid- Pandemie, aber es war sehr schwierig, sich eine Mangellage für sämtliche Verbraucherinnen und Verbraucher vorzustellen.

Wie funktioniert der Strommarkt im Kanton?

Im Kanton Freiburg teilen sich Groupe E, Gruyère Energie und IB Murten die wichtigsten Netzgebiete untereinander auf. Zwei kleine Sektoren werden von ausserkantonalen Unternehmen abgedeckt: ein Teil der Broye von Romande Energie und ein Teil des Seebezirks von der BKW. Die genannten Versorger sind private Unternehmen, die an das Bundesgesetz über die Stromversorgung und an ein kantonales Gesetz über die Elektrizitätsversorgung gebunden sind. Die Tarifvorgaben werden anschliessend von den Versorgern angewendet und von der Eidgenössichen Elektrizitätskommission (ElCom) kontrolliert. Der Markt ist gut reguliert.

Weshalb ist er dann aus dem Ruder gelaufen?

Der europäische Markt, mit dem der Schweizer Markt vernetzt ist, hat sehr heftig auf das Risiko einer Mangellage in diesem Winter reagiert. Seitdem sind die Preise in die Höhe geschnellt und haben, was Gas und Strom anbelangt, Rekordmarken erreicht.

Was den Strom betrifft, müssen zwei Verbraucherkategorien unterschieden werden. Einerseits die Verbraucher, deren Stromverbrauch weniger als 100 MWh/Jahr beträgt: Diese sind Teil eines regulierten Markts und an den Tarif ihres Versorgers gebunden. Es handelt sich bei ihnen um sogenannte gebundene Kunden. Falls der Versorger über eine grössere eigene Produktion verfügt, deren Kosten relativ stabil sind (das ist etwa bei Wasserkraftanlagen der Fall) und die er hauptsächlich für seine gebundene Kundschaft verwendet, werden die Kundinnen und Kunden keine massiven Tariferhöhungen hinnehmen müssen.

Verbraucher hingegen, die über 100 MWh konsumieren und die aus dem regulierten Markt in den liberalisierten Markt gewechselt haben, konnten während vieler Jahre von tieferen Energiepreisen profitieren. Sie sind nun aber der Preisentwicklung auf dem Markt ausgeliefert und können zudem von Rechts wegen nicht einfach in den regulierten Markt zurückkehren. Einige von ihnen haben die kommenden Preiserhöhungen vorausgesehen und haben sich ihre Versorgung für das Jahr 2023 schon relativ früh gesichert, andere wiederum haben zu lange zugewartet und werden nun von den Preiserhöhungen mit voller Wucht getroffen.

In den eidgenössischen Kammern wird Diskussion geführt über die Möglichkeit für Verbraucher, die sich im freien Markt befinden, in den regulierten gegenwärtig eine Markt zurückzukehren. Das würde eine Änderung der gesetzlichen Vorgaben voraussetzen, und es hätte wahrscheinlich Auswirkungen für die Kunden, die bereits auf dem regulierten Markt sind.

Wie können sich die Unternehmen auf die Mangellagen und die angekündigten Preiserhöhungen vorbereiten?

Kurzfristig ist es unumgänglich, dass sich die Unternehmen insbesondere auf das Risiko einer Mangellage und die sich daraus ergebenden Folgen vorbereiten. Sie sollten schon jetzt einen Aktionsplan erstellen, der das Ziel verfolgt, Strom zu sparen, um bereit zu sein für den Moment, in dem der Bund allenfalls eine Kontingentierung oder gar eine Abschaltung ankündigt. Einige Unternehmen können das intern mit ihrem technischen Dienst lösen, andere wären gut beraten, externe Unterstützung (ich denke hier zum Beispiel an Ingenieurbüros) beizuziehen. Wir wissen von zahlreichen Unternehmen, die diese Arbeit bereits in Angriff genommen haben.

Mittelfristig sollten die Unternehmen auf eine Maximierung der eigenen Stromproduktion hinarbeiten, insbesondere durch das Anbringen von Photovoltaik-Anlagen auf ihrer bestehenden Infrastruktur, aber auch mittels Reduktion des Verbrauchs.

Können die in der Kampagne des Bundesrats vorgestellten «kleinen Gesten» tatsächlich etwas bewirken?

Letztlich werden alle Massnahmen nützlich sein. Auch wenn wir uns zurzeit noch nicht in einer Mangellage befinden, so erlauben sie es doch, die Einführung von einschränkenden Massnahmen durch den Bund und die Nutzung der angelegten Reserven so weit wie möglich hinauszuschieben. Man muss diese «Gesten» als Vorbereitungsmassnahmen verstehen, die es ermöglichen, die Bevölkerung einzustimmen und zu sensibilisieren. Die Gewohnheiten, die sich die Bevölkerung zu eigen macht, werden auch in Zukunft nützlich sein, denn wir können unseren Energieverbrauch nicht unendlich steigern.

Sie nehmen Bezug auf die Einschränkung des Energieverbrauchs. Ist das der Weg der Zukunft?

Sie ist ein Muss. Nicht in dem Sinn, dass wir Abstriche an unserer Lebensqualität machen müssen, sondern dahingehend, dass wir die Art und Weise unseres Verbrauchs überdenken müssen. Die gegenwärtige Situation zwingt uns zu einer Änderung. Die Stabilität, die wir gekannt haben, ist ins Schlingern geraten. Man muss auch darauf hinweisen, dass diese Mässigung durchaus mit der wirtschaftlichen Weiterentwicklung kompatibel ist. Ein Beispiel: Die Zielvereinbarungen, die seit 2015 zwischen dem Kanton und über 200 Grossverbrauchern abgeschlossen wurden und darauf abzielen, den Energieverbrauch einzuschränken, zeigen auf, dass eine merkliche Reduktion des Energieverbauchs
auf nachhaltige und rentable Weise machbar ist.

Könnte die Energiemangellage länger dauern?

Die kritische Periode ist zwischen Januar und April 2023 zu erwarten. Sie wird abhängig sein von der Härte des Winters, von den Kapazitäten der Nachbarländer, uns Energie – Strom und Gas – zu liefern, vom Wasserstand der Stauseen und von der geopolitischen Lage. Angesichts dieser Umstände müssen wir in der Schweiz rasch neue Kapazitäten für die Energieproduktion schaffen, besonders für die Winterzeit. Zudem können wir kurz- und mittelfristig nicht auf Kernkraft setzen, denn die Inbetriebnahme eines neuen Atomkraftwerks würde mindestens 25 Jahre in Anspruch nehmen. Es ist deshalb dringend nötig, sämtliche in unserem Land möglichen und verfügbaren Energiequellen zu nutzen, die erneuerbar sind: Sonne, Wasserkraft, Wind, Geothermie und Biomasse. Wir werden uns den Luxus bestimmt nicht leisten können, eine Quelle zu bevorzugen.

Der Kanton hat eine Energiestrategie bis 2030 festgelegt. Ist diese immer noch aktuell?

Mehr als je zuvor. Sie wurde 2010 eingeführt mit Zielen für das Jahr 2030, und wir stellen fest, dass die in der Strategie festgelegten Grundsätze in die richtige Richtung zielen. Bis 2050 müssen wir in Verbindung mit der Umsetzung der Energiestrategie 2050 des Bundes auf diesem Weg weitergehen und den Prozess angesichts der Umstände sogar beschleunigen.

Energie: Ausbildung als Lösungsansatz

Die aktuellen Ereignisse zeigen deutlich, dass dem Energiemanagement in der Bevölkerung und vor allem in der Wirtschaft eine entscheidende Wichtigkeit zukommt. In diesem Zusammenhang gibt die Energieagenda Westschweiz (eine 2020 aufgeschalteten Plattform www.agenda-energie-so.ch) einen umfassenden Überblick über sämtliche Ausbildungen – von einer eintätigen Ausbildung bis zu CAS oder MAS – sowie Anlässe und Konferenzen im Bereich Energie.

Diese neutrale und apolitische Plattform wird von Energie-FR verwaltet, einem 2012 im Auftrag des Amts für Energie ins Leben gerufenen und von der HTA-FR umgesetzten Weiterbildungsprogramm. «Die Energieagenda Westschweiz ist ein Treffpunkt für Ausbildungs- und Eventorganisatoren und potenzielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich gerne im Bereich Energie fortbilden oder informieren möchten», führt Sofia Marazzi, Leiterin des Ausbildungsprogramms Energie-FR an der HTA-FR, aus.

Die angebotenen Ausbildungen richten sich sowohl an Profis – mit manchmal eher technisch gehaltenen Inhalten – als auch an Private und öffentliche Einrichtungen. Ziel ist es, qualitativ hochstehende Inhalte zu vermitteln und das Angebot umfassend abzubilden: «Wir verfügen über einen Steuerungsausschuss, in dem Expertinnen und Experten aus Universitäten und der Wirtschaft vertreten
sind. Diese nehmen eine Einschätzung der von uns publizierten Organisatoren, Ausbildungen und Anlässe vor», ergänzt die Leiterin. Die Organisatoren sind gehalten, eine Charta zu befolgen, die insbesondere den Anspruch stellt, dass die behandelten Themen mit der Energiepolitik von Bund und Kanton übereinstimmen.

Gegenwärtig nimmt die Anzahl der auf der Energieagenda Westschweiz angebotenen Anlässe zu. Gemäss der Leiterin behandeln zahlreiche Ausbildungen und Events, die auf der Plattform publiziert werden und die das Publikum am meisten interessieren, die Bereiche Gebäude und energetische Sanierungen.

www.agenda-energie-so.ch, Kontakt: agenda-energie-so@hefr.ch

Interessieren Sie sich für das Thema Energie?


Der FAV organisiert eine Konferenz mit dem Titel "Energiesituation: Sind wir bereit?" am 23. November 2022 um 10.30 Uhr im Forum Fribourg (Halle 4C).

Programm

10.30
Ansprache von Patrick Gendre, Präsident des FAV

10.35 – 11.35
- Präsentation von Richard Phillips, Bundesamt für Energie BFE : «Vision von Seiten des Bundes und Verordnungen»
- Präsentation von Olivier Curty, Freiburger Staatsratspräsident : «Kantonale Strategie»
- Präsentation von Jacques Mauron, Generaldirektor Groupe E : «Bedenken der Stromanbieter»
- Präsentation von Richard Pasquier, E2PME Sàrl : «Energie verbrauchen oder produzieren, muss man sich entscheiden?»

11.35
Runder Tisch :
-Richard Phillips, BFE
-Serge Boschung, Dienstchef des Amts für Energie (VWBD)
-Jacques Mauron, Groupe E
-Richard Pasquier, E2PME Sàrl
-Olivier Brulhart, Unternehmer

12.00
Reichhaltiger Aperitif

Anmeldungen bis Freitag, 18. November 2022